GrenzPerspektive: Insel der Glückseligen

Gastkommentar von Otto Lampe 10.7.2017, verfügbar unter: NZZ Gastkommentar

 

Obwohl wir ordentlich gearbeitet haben, kommt mir die Zeit als Botschafter Deutschlands in der Schweiz rückblickend wie ein einziges, grosses Fest vor. Eine Liebeserklärung an die Schweiz.

Ich hatte das grosse Glück, die letzten vier Jahre meines Berufslebens in der schönen Schweiz verbringen zu dürfen. Gemessen an den Irrungen und Wirrungen in Europa und im Rest der Welt lebt man in der Schweiz noch auf einer Insel der Glückseligen. Ein derart hohes Mass an politischer Stabilität, zivilgesellschaftlicher Mitverantwortung, wirtschaftlicher Prosperität und sozialem Frieden dürfte einmalig sein.

Zu Beginn meiner Laufbahn hätte ich mir vielleicht einen exotischeren Posten gewünscht. Doch die Schweiz ist exotischer, als man so meint. Das gilt nicht nur für die Multikulturalität des Landes, sondern auch für die zum Teil höchst unterschiedlichen regionalen Eigenheiten innerhalb desselben Sprachraums: Basler Fasnacht, Albanifest in Winterthur, Berner Zibelemärit, Sechseläuten in Zürich, Bochselnacht in Weinfelden oder Fête des Vignerons: Die kulturelle Vielfalt ist ebenso unerschöpflich wie lebendig. Dazu passt auch das weite sprachliche Spektrum vom Basler- über das Sensler- bis zum Walserdeutsch und zum Patois

Wer also – aus dem Norden kommend – meint, die Schweiz sei eine Art verlängertes Deutschland, der hat die Schweiz überhaupt nicht verstanden.

Humanitäre Supermacht

Aus bitterer Armut innerhalb weniger Generationen durch harte Arbeit, Kreativität, Disziplin, Gemeinsinn und ein wenig Unterstützung von aussen zu nachhaltigem Wohlstand zu gelangen und nach Jahrhunderten blutiger Konflikte durch einen mehr oder weniger fairen regionalen Interessenausgleich, dezentrale Organisation, Subsidiarität und effiziente Verwaltung eine funktionierende «Willensnation» zu etablieren, sind nur zwei (wenn auch wichtige) Erklärungsmuster für den präzedenzlosen Erfolg dieser Gesellschaft.

Ich kenne Länder, die nicht einmal ein Fünftel des Schweizer BIP erwirtschaften und sich 25 Minister leisten. Ganz zu schweigen von Scharen von Staatssekretären und sonstigen Würdenträgern.

Und natürlich spielt das höchst erfolgreiche Modell der direkten Demokratie eine tragende Rolle. Ich bin in den letzten knapp vier Jahren ein grosser Fan geworden. In Deutschland reduziert man sie gern auf ihre plebiszitären Elemente. Dabei wird übersehen, dass sie – trotz aller Kritik – ebenso auf dem immer noch gut funktionierenden Milizsystem beruht wie auch auf der Kontinuität der Exekutive, die auch über Wahlen hinaus gewährleistet ist. Wer gute Arbeit für das Land leistet, kann auch gerne einmal 10 oder 15 Jahre im Bundesrat bleiben; dies in einer basisdemokratisch untermauerten Meritokratie, die die massgeblichen politischen Strömungen vereint und deren Mitglieder in einem konsensorientierten Check-and-balance-System zusammenarbeiten. Welches erfolgreiche Land der Welt wird von gerade einmal sieben Ministern regiert? Ich kenne Länder, die nicht einmal ein Fünftel des Schweizer BIP erwirtschaften und sich 25 Minister leisten. Ganz zu schweigen von Scharen von Staatssekretären und sonstigen Würdenträgern. Hierzulande gibt es keine Synergieverluste durch aufreibende Wahlkämpfe und komplizierte Koalitionsverhandlungen.

Hier ist Bundespolitik weniger wichtig

In der Schweiz ist man bescheiden. Man stellt die eigenen Verdienste nicht gern ins Schaufenster. Aber zum Gesamtbild gehört auch, dass die Schweiz nicht nur ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Erfolgsmodell ist. Mit der weltweit höchsten Anzahl von humanitären Organisationen, mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, mit den erfolgreichen Mediationsprojekten, mit dem in der Schweiz entwickelten humanitären Völkerrecht, mit ihren langjährigen Schutzmachtmandaten und mit dem weltweiten Ruf eines objektiven, neutralen Vermittlers ist die Schweiz eine humanitäre Supermacht.

Besonders erfreulich ist auch das im Vergleich zu anderen Ländern reduzierte spezifische Gewicht der Bundespolitik in der Schweizergesellschaft. Eine Art «Res publica light». Das äussert sich auch in dem – im internationalen Vergleich – ausgesprochen unprätentiösen Auftritt der Schweizer Politiker. Kein riesiger Mitarbeiterstab, keine dicken Limousinen, keine gebieterische Security. Abgeordnete und Bundesräte aller Fraktionen sind zumeist frei von Dünkeln und jederzeit ansprechbar. Die Handynummer ist auf den Visitenkarten, und man macht schnell «Duzis».

Der «grosse Kanton» Deutschland ist in der Schweiz sehr nachgefragt. Und umgekehrt.

Gleiches gilt für die Kolleginnen und Kollegen im EDA: In der Regel sympathisch, bescheiden und hoch kompetent. Und, trotz allen Beschwerden über zunehmende Bürokratie: Das hohe Mass an Effizienz in Politik und Verwaltung ist beeindruckend. Wenn gemeckert wird, dann auf hohem Niveau. In welchem anderen Land der Welt wird öffentlich darüber diskutiert, ob Minister gratis vor ihrem Ministerium parkieren dürfen? Es kann einem in Bern passieren, dass man beim Einkaufen in der Migros an der Kasse neben Herrn oder Frau Bundespräsident steht. Und niemand macht daraus ein Theater. Auch ein wohltuendes Zeichen emanzipierten Bürgertums. Ein unaufgeregtes, höchst effizientes System, ein Best-Practice-Benchmark für entwickelte Demokratien in unserer postindustriellen Welt.

Und dann ist da natürlich die alles tragende Säule: ein System, in dem «dēmos» (Volk) und «kratós» (Herrschaft) glaubwürdiger miteinander verbunden werden als in allen anderen mir bekannten Demokratien – über 300 Volksabstimmungen in knapp 170 Jahren. Und das nur auf Bundesebene. Da kann das Studium der vielen Abstimmungsbüchlein schon zum Teilzeitjob werden. Mehrmaliger Urnengang pro Jahr auf allen Staatsebenen zu allen möglichen Themen macht aus mündigen Bürgern veritable Souveräne.

Es macht sie zu Mitverantwortlichen der Exekutive, die – trotz aller in letzter Zeit aufkeimenden Kritik – an der Urne nicht lediglich ihren Frust gegenüber «denen da oben» abladen, nicht nur immer das eigene, sondern oft auch das Wohl des Landes im Auge haben und überwiegend sorgsam mit ihrer Stimme umgehen. Das letzte Wort hat das Volk.

Deutsche Besucher machen immer ungläubige Gesichter, wenn ich ihnen erzähle, dass die Schweizerinnen und Schweizer u. a. gegen eine zusätzliche Ferienwoche, gegen den Mindestlohn und gegen die «1:12-Initiative» gestimmt haben. Hier hat man halt noch ein rationales makroökonomisches Bauchgefühl. Hoffentlich bleibt's erhalten!

Die Schweiz und der «grosse Kanton»

Der «grosse Kanton» Deutschland ist in der Schweiz sehr nachgefragt. Und umgekehrt. Die Einstellungen zu Deutschland variieren – je nach Gesprächspartner – zwischen Wohlwollen, Respekt, Reserve und Distanz. Oft auch kombiniert. Die Deutschen lieben die Schweiz, aber die Schweizer – zumindest diesseits des Röstigrabens – wollen gar nicht so gern von den Deutschen geliebt werden. Non troppo. Der politische Himmel zwischen beiden Ländern ist durchweg sonnig. Daran können auch ein paar Schlapphüte nichts ändern.

Einige zwischenstaatliche «Dauerbrenner» haben mich jedoch während meiner Zeit in Bern begleitet. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Verträge, die von Deutschland zwar unterzeichnet, aber zum Teil weder ratifiziert noch umgesetzt wurden. Dies betraf zunächst noch das bilaterale Steuerabkommen, das inzwischen durch die Umsetzung der Schweizer Weissgeldstrategie, durch den bevorstehenden automatischen Informationsaustausch und durch eine Welle von Selbstanzeigen deutscher «Steueroptimierer» weitgehend obsolet wurde. Es betrifft infrastrukturelle Bringschulden Deutschlands wie den mit dem Vertrag von Lugano 1996 versprochenen Ausbau der Neat-Anschlussstrecke, sowie die mangelnde Elektrifizierung der Hochrheinbahn. Dazu gehört auch das leidige, unsere Beziehungen potenziell störende Fluglärmthema.

EU ist nicht sehr en vogue

Besonderen Raum eingenommen haben in den letzten Jahren natürlich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU – die Union ist in der Schweiz nicht sehr en vogue. Dabei spielen in der öffentlichen Meinung aber ebenso viele eigenartige Klischees über das «Monster von Brüssel» eine Rolle wie in manchen EU-Mitgliedstaaten. Ausserdem ist die Neigung, einem Verein überwiegend ärmerer Verwandtschaft beizutreten, offensichtlich nicht besonders stark ausgeprägt. Die Masseneinwanderungsinitiative war oft der «weisse Elefant» im Raum bei Treffen mit Schweizer Partnern und beschäftigte die hier in Bern akkreditierten 24 EU-Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Intensität. Durch den «Inländervorrang light» konnte ein Weg aus dem Dilemma zwischen Verfassungswortlaut und Fortsetzung der Bilateralen gefunden werden.

Es bleibt zu hoffen, dass auch ein Weg zu Harmonisierung der Bilateralen mit dem Acquis communautaire gefunden werden kann. Hier richten sich die Schweizer Erwartungen aus naheliegenden Gründen sehr an die unmittelbaren Nachbarn, insbesondere natürlich auch an den «grossen Kanton». – Die Debatte um «fremde Richter» habe ich allerdings als Jurist ehrlich gesagt nie richtig verstanden. Gibt es denn auch «eigene Richter»?

Es war für mich auf jeden Fall ein grosses Privileg, in der Schweiz leben und arbeiten zu dürfen. Und ich werde vieles vermissen – das Skifahren im Berner Oberland, die Bilderbuchlandschaften, die drei Küsschen zur Begrüssung, den Blick auf den Berner Hausberg Gurten, den traumhaften Garten, den «Aare-Schwumm» und – ja, auch die Mundart.

Meine Lieblingswörter? «Zustupf» und «heimatberechtigt». Nicht vermissen werden wir: die Preise, die Staus auf der A 1, die «Blitzer» – und die NZZ. Denn Letztgenannte gibt es glücklicherweise auch in Berlin!

 

Otto Lampe war von 2013 bis Ende Juni 2017 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Schweiz und in Liechtenstein.

 

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