GrenzPerspektive: Alt-Oberbürgermeister Waldshut-Tiengens im Porträt

Zum Originalinterview inkl. Fotos geht es hier lang.

Es juckt nicht!

von Peter Belart

Vor den Toren der Waldshuter Altstadt steht ein nach vorne geneigter Mann, fest erdverbunden mit einem gewaltigen Fuss, den andern, dünneren, tastend nach vorne ausgestreckt, den Blick mit starrem Auge rückwärts gewandt. «Grenzgänger» heisst das Werk von Jürgen Goertz. Die Plastik «verkörpert den Konflikt zwischen Beharren und Fortschritt, zwischen Tradition und gebremster Bewegung».

Waldshut grenzt an die Schweiz. Der Rhein bildet hier eine natürliche Barriere. Wie hoch ist aber die Schranke, die das Handeln der grenznah lebenden Bevölkerung bestimmt? Entsprechen das vorsichtige Tasten und das ängstliche Zurückschauen der Waldshuter Skulptur den Tatsachen?

Als langjähriger Bürgermeister von Waldshut-Tiengen befasst sich Martin Albers mit «Grenzfragen». Wie kaum ein anderer ist er deshalb befugt, über das Verhältnis der grenznah lebenden Bevölkerung zum Nachbarn Gültiges auszusagen. Schon seine erste Antwort überrascht.

Herr Albers, sind Sie selber ein Grenzgänger?
(Martin Albers antwortet keineswegs spontan. Er zögert, denkt nach, kneift die Augen zusammen.) Ich suche gerne Grenzen auf, schaue, was dahinter ist. Aber ich komme auch gerne wieder nach Hause. Was ist wirklich möglich; was kann man umsetzen? Es gilt, das Machbare zu erkennen und sich darauf zu konzentrieren. Auch da stosst man auf Grenzen. Das hat unter anderem historische Gründe.

Wie meinen Sie das?
Im Jahr 1945 lebten in Waldshut 6000 Personen, in Tiengen 4000, eine relativ homogene Bevölkerung. Dann kamen in diesen beiden Städten etwa 4000 Flüchtlinge aus Pommern, Schlesien und Ostpreussen an, die meisten von ihnen evangelisch, während hier ein traditionell katholisches Umfeld ist. Die einzelnen Gruppen blieben anfangs unter sich. Jahrzehnte später dieselben Mechanismen, als nach dem Mauerfall die Ostdeutschen aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg hier siedelten. Und wieder die Einreisewelle der Russlanddeutschen aus Sibirien, Kasachstan und Armenien. All das war mit ein Grund, weshalb das Interesse an grenzüberschreitenden Kontakten gering blieb. Umgekehrt beschränkten sich auch die Schweizer mehrheitlich auf ihr Umfeld. Beispiel: Die hohe Dichte und die Qualität der Universitäten führen dazu, dass sich nur wenig Studierende im Ausland immatrikulieren. (denkt nach) Der Zweite Weltkrieg hat unerhört viel ausgelöst.

Erkennen Sie Mentalitätsunterschiede?
Gerne schicke ich voraus, dass ich Kontakte mit Menschen aus der Schweiz immer angenehm empfinde. Aber es gibt schon deutliche Unterschiede. Die Deutschen verhalten sich im Kontakt mit den Schweizern eher zurückhaltend. Und sie beachten Formen von Höflichkeit, die für Schweizer merkwürdig erscheinen. Die Hierarchie spielt zum Beispiel eine bedeutende Rolle. Schweizer treten selbstbewusster und gewandter auf. Sie sind klar in ihrer Positionierung. Persönliches wird kaum angesprochen. Die Deutschen suchen zuerst eine freundschaftliche Basis, bevor sie sich schwierigen Themen zuwenden.

Ein Blick in die Zukunft: Wie wird sich Ihrer Meinung nach das Verhältnis der grenznah lebenden Menschen zueinander entwickeln?
Es bleibt der Politik auf allen Ebenen vorbehalten, hier Weichen zu stellen. Wenn die Schweiz zur EU kommt, sind die Voraussetzungen für eine Annäherung viel besser. Ein entscheidender Hinderungsgrund ist die Frankenstärke. Das betrifft nicht nur das Gewerbe, sondern jeden Einzelnen. Denken Sie an einen Besuch des Zürcher Zoos mit der ganzen Familie. Für viele meiner Mitbürger eine finanzielle Herausforderung. Dasselbe gilt für Ferien in der Schweiz. Ausserdem spielen die Schweizer Diskussion um die Ausländerthematik mit hinein und ebenso der Einfluss rechts gerichteter Politik.

Und im Kleinen?
Da erkenne ich zahlreiche Ansatzpunkte. Ich nenne den grenznahen Tourismus – ich war kürzlich in Königsfelden und habe den Legionärspfad kennen gelernt. Oder den grenzüberschreitenden Besuch von Volkshochschulen. Oder die Mitgliedschaft in Vereinen und Zünften. Oder grenzüberschreitende Aktivitäten wie etwa der SlowUp Hochrhein oder die schwäbisch-alemannische Fasnet. Letztlich liegt das Gelingen immer an einzelnen aktiven Personen. So etwa, als unsere CDU in Kontakt mit der CVP ennet des Rheins trat. Es gab Besuche und Ausflüge, nach Aarau zur Grossratsession und sogar ins Bundeshaus in Bern. Aber sonst beschäftigen sich meine Landsleute meist nur dann mit den Nachbarn auf der andern Rheinseite, wenn sie das tun müssen. Die Schweiz ist Ausland. Punkt. Ausnahmen strahlen nicht aus. Es juckt nicht!

Wie sieht es mit offiziellen Kontakten aus?
Es gab grenzüberschreitende Projekte, die wir in gemischten Projektgruppen angingen. Eines der sichtbarsten war die Bahnverbindung Koblenz-Waldshut mit der neuen Brücke und der Elektrifizierung der Hochrheinstrecke. In der Hochrheinkommission trifft man sich und befasst sich mit Themen aus Verkehr, Bildung, Tourismus und Energie. Weitere Kontakte ergeben sich bei offiziellen Anlässen, bei Neujahrsempfängen oder festlichen Anlässen. Dabei beobachte ich öfters Merkwürdiges: Die Besucher bleiben gerne unter sich, so kommt es gar nicht zum erwünschten Gedankenaustausch.

Was wäre aus Ihrer Sicht wünschenswert?
Ein möglichst grosses Angebot an Kontaktmöglichkeiten, bei denen Deutsche und Schweizer ins Gespräch kommen. Wichtige Themen von gemeinsamem Interesse gibt es genug: das Tiefenlager oder den Fluglärm. Bei Informationsveranstaltungen sehe ich aber kaum jemanden von der jeweils anderen Seite. Immerhin gibt es einen gewissen Austausch in den Kommissionen. – Informelle Kontakte liessen sich bei einer offenen Grundhaltung leicht herbeiführen, etwa in Schwimmbädern oder in Restaurants. Ich wünschte mir, dass die Menschen vermehrt grenzüberschreitend denken. Dass wir Deutschen zum Beispiel das PSI oder die Fachhochschule in Brugg-Windisch als zu unserer erweiterten Region gehörend betrachten, unsere Studenten und unsere Wissenschaftler dorthin schicken und diese Institutionen zum Dialog nutzen. Die Staatsgrenze sollte nicht gleichzeitig unsere Vorstellungskraft und unseren Horizont eingrenzen.

 

Martin Albers (1953) hat einen interessanten Lebenslauf: Abitur, Gebirgsjäger, 1973 Eintritt in den Kapuzinerorden, Studium der Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaften. 1987 Landratsamt Waldshut, 1990 stv. Pressesprecher Kultusministerium Stuttgart, 1990 Wahl zum Oberbürgermeister Waldshut-Tiengen, Wiederwahlen 1999 und 2007, im Amt bis 2015. Zahlreiche Ämter in überregionalen Gremien u. a. langjähriges Mitglied der Vollversammlung des Regionalverbandes Hochrhein-Bodensee. Albers ist verheiratet, hat 4 erwachsene Kinder und vier Enkel.

 

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